Ja, die aktuelle Lektüre von  Publikationen in bekannten online-Foren wie ZEIT, SPON, SZ, oder linkedIn, XING, Youtube, facebook etc. lässt mich schon staunen, mit welcher Chuzpe (klingt irgendwie angemessener, besser, als Unverfrorenheit) viele Menschen ihre Meinungen veröffentlichen. Gedanken, die Karl Kraus in Erinnerung bringen: "Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein sie auszudrücken." "Si tacuisses ..." meinte einst der griechische Philosoph verzweifelt, und mahnt damit etwas an, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, nämlich bisweilen einfach mal die Klappe zu halten! Ja, das gilt schon lange, eigentlich schon immer. Und es gilt auch für diesen Text. Den man aber nicht lesen MUSS. Ich schreibe nur darüber, weil es mich zunehmend aufregt, welch ein Unsinn im Netz verzapft wird. Mit dem dreisten Gestus des Rechthabens, und unter dem pseudo-demokratischen Deckmäntelchen des "Das-wird-man-ja-noch-sagen-dürfen" kommen unausgegorene Meinungen daher, die, um das Elend komplett zu machen, auch noch genau diese Haltung bei allen anderen mit lautsprecherischen Worten anprangern.

Zum Beispiel die unzähligen Veröffentlichungen von Menschen, die sich über die scheinbare Wankelmütigkeit der gerade angesagten Wissenschaftler*innen aufregen. Und das dann auch umstandslos auf Politiker*innen übertragen. Es hat sich wohl noch nicht ganz rumgesprochen, dass das Wesen der Wissenschaft die Forschung ist, die naturgemäß niemals mit Gewissheit wahr sein kann. Jede Erkenntnis ist immer nur mit einer gewissen Unsicherheit zu formulieren, auf einer Vermutung aufgebaut, und nur solange gültig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Es ist der Umgang mit Unsicherheit, den wir alle wohl noch lernen müssen. Der erste Schritt dahin muss über die Sprache führen, die unsere Kommunikation, und damit unsere sozialen Beziehungen prägt! Es hilft ungemein, wenn wir zunächst etwas vorsichtiger formulieren würden. NATÜRLICH ist das anstrengend. Jedes Wort gehört auf die berühmte Goldwaage! Eine gute freundschaftliche Beziehung mit möglichst wenig Missverständnissen sollte uns das wert sein! Und wenn man die sprachlichen, vor allem aber die schriftlichen, Äußerungen verfolgt, ist es notwendiger denn je!

Ein anderes unsägliches Thema ist die klischeehafte Verurteilung des Intellektuellen, einer unseligen Tradition folgend. Es lässt sich immer wieder, und zunehmend, feststellen, dass es ein wohl tief verwurzeltes Ressentiment (meint: eine auf dem Gefühl der Unterlegenheit beruhende Abneigung) gibt, das, zumindest in krisenhaften Zeiten, beinahe reflexhaft an die Öffentlichkeit drängt: Der Zorn auf die Intellektuellen! Ich habe noch nie so ganz verstanden, wer "die Intellektuellen" eigentlich sind. Inzwischen wurde mir klar, dass damit wohl Leute gemeint sind wie Richard David Precht. Nur, warum ausgerechnet der?  Die Begründung wird gleich mitgeliefert: Weil er immer im Fernsehen ist, zu allem was zu sagen hat, unverständlich redet, und zu Themen sich äußert, von denen er keine Ahnung hat. Nun verfolge ich den Herrn Precht schon eine geraume Zeit. Ich halte ihn für einen sehr guten Denker, der aus einem breiten Wissensfundus schöpfen kann, gut und verstehbar spricht, und, ganz wichtig, immer auf einen Dialog aus ist! Ich halte ihn für einen Philosophen, der auf dem Grat zwischen einerseits konsequenter Unterforderung (Fernsehen), und andererseits wissenschaftlich angemessener Formulierungskunst, wandelt, ohne bisher abgestürzt zu sein. Das macht er ganz gut! Mein wichtigstes Argument allerdings ist, dass er über Themen spricht, in denen er sich nicht wirklich gut auskennt. Ich halte das für mutig, weil er sich ja nicht anmaßt, überall eine Epertenmeinung zu vertreten. Sondern, im Gegenteil, Anknüpfungspunkte für die eigentlichen Expert*innen eröffnet. Ich bin an Egon Friedell erinnert, der einen meiner Lieblingsbegriffe wunderbar beschreibt, den Begriff des "Dilettantismus'". Dazu führt er in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" aus:

"Was den Dilettantismus anlangt, so muss man sich klarmachen, dass allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt wird. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im üblen Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel. Der Fachmann steht immer zu sehr in seinem Berufskreise, er ist daher fast nie in der Lage, eine wirkliche Revolution hervorzurufen: er kennt dieTradition zu genau und hat daher, ob er will oder nicht, zu viel Respekt vor ihr. Auch weiß er zu viel Einzelheiten, um die Dinge noch einfach genug sehen zu können, und gerade damit fehlt ihm die erste Bedingung fruchtbaren Denkens. Die ganze Geschichte der Wissenschaft ist daher ein fortlaufendes Beispiel für den Wert des Dilettantismus. (…) Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts Zuverlässiges wissen kann, kurz Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen ließe, daß sie falsch sind – dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität (…).“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Der Vorwurf selbst scheint mir in einem gering ausgeprägten Selbstwertgefühl zu wurzeln, vielleicht einem Minderwertigkeitskomplex, der sich bisweilen rüde Bahn bricht. Es könnte auch eine innere Blockwartmentalität sein, die da durchbricht. Aber wie dem auch sei, diese Corona-Krise bringt uns doch viele Erkenntnisse. Neue, aber auch solche, die wir vorher auch schon kannten. Wir wussten beispielsweise bereits seit 1972 durch den Club of Rome über die Grenzen des Wachstums Bescheid. Zwar ohne erkennbare Auswirkungen, aber jetzt wieder recht unsanft darauf gestoßen. Vielleicht klappt es ja jetzt mit dem Lernen. Die Erkenntnis, dass wir vorsichtiger, zurückhaltender miteinander sprechen müssen, ist zwar auch nicht originell, kommt aber aktuell mit einer gewissen Drastik daher. "Der Ton macht die Musik" wußte bereits der Volksmund, die dumme Schnauze. Und die Musik, die gerade in den sogenannten sozialen Netzwerken gespielt wird, ist ein guter Grund, sich mit Grausen abzuwenden. Wenigstens kurz! Um dann mit Verve wieder mitzumsichen!

Weiterführende Texte: Von Fritz B. Simon Auszüge aus seiner Anleitung zum Populismus, ein Text von mir über  Dilettantismus, das Hohelied der Provisorien, über Rhetorik der Krise, und, ein Kontrapunkt, über die Verführbarkeit durch neue Propheten: Wir brauchen eine Schulrevolution.

Posted by Michael Weisbarth

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