Michael Weisbarth

Komplizen?

Vorsorgemaßnahmen werden Opfer ihres eigenen Erfolges? Na klar. Das klingt zwar unwahrscheinlich, ist aber wohl tatsächlich so. Grenzen dicht machen? Nach dem starken Staatsführer rufen? Eine Verschwörung wittern? Zu esoterischen Gespinsten Zuflucht suchen? All das nimmt zu. Und außer der aggressiv vorgetragenen Unterstellung einer staatlichen Verschwörung zu Gunsten der Pharmaindustrie, flankiert von sog. Mainstreammedien mit Fake News, ist es vor allem die Flucht ins irrationale "Die-Erde-ist-eine-Scheibe-Geblubber einer Strahlenverseuchungsesoterik, die zunehmend in den Netzwerken und öffentlichen Nachrichtenkanälen auftauchen. In Krisenzeiten erweist sich der wirkliche Charakter, oder mache gesellschaftliche Tendenzen deutlich, meint der Volksmund, die bisweilen dumme Schnautze! Es bestärkt mich jedenfalls in meiner Meinung, dass das nur mangelhaft ausgebildete Abstraktionsvermögen die Ursache für dies unselige Geraune sei. Ich war schon vor Corona dieser Meinung, schon lange vor Corona. Es erinnert mich an eine einprägsame Formulierung von Joseph von Westphalen, der sinngemäß meinte, das aktuelle Regierungsbestiarium sei nu deshalb in Berlin, weil die ästhetische Urteilskraft des Souveräns, also des Volkes, in solch katastrophalem Zustand sei! Ästhetische Urteilskraft hat sehr viel mit abstraktem Denkvermögen zu tun. Sich einer Vorstellung, einer Idee denkend zu nähern, sich mutig ins "nackte Gefild' abgezogener Begriffe " (Schiller) zu wagen, ohne sofort in die Details der Realität abzugleiten, das ist die Grundvoraussetzung einer jeglichen Entwicklung. "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt!" wußte bereits Einstein, der ja zu allem etwas kluges zu sagen wußte. Aber auch poetisch hatte sich diese Erkenntnis schon längst herumgesprochen. Christian Morgenstern dichtete:

Der Ästhet
Wenn ich sitze, will ich nicht
sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte,
sondern wie mein Sitz-Geist sich,
säße er, den Stuhl sich flöchte.

Der jedoch bedarf nicht viel,
schätzt am Stuhl allein den Stil,
überläßt den Zweck des Möbels
ohne Grimm der Gier des Pöbels.

Und wer weiß, wenn die Fähigkeit zur Abstraktion besser ausgebildet wäre, ob wir dann an unserem bisweilen hohlen Geschwätz selber leiden würden? Ich bin gerade sehr skeptisch, denn auch wenn ich gerne glauben möchte, die Corona-Pandemie sei eine Zäsur, die es unserer Gesellschaft ermögliche, Fehler zu korrigieren, andere Schwerpunkte zu setzen, also aus den Erfahrungen zu lernen, so habe ich doch den Eindruck, es nimmt zu, dieses unreflektierte Gemeine, diese merkwürdig-eifernde Suche nach angeblichen Beweisen dafür, dass die Regierung ein abgekartetes Spiel spielt, "die Politiker" uns unterdrücken, unsere Freiheiten unzumutbar einschränkt. Welch ein Unfug!

Aber halt. Ich bin auch ein Kritiker dieser Regierung, dieser Politik. Aber aus ganz anderen Gründen. Und nicht erst jetzt, sondern schon solange ich denken kann. Das ist wörtlich gemeint, denn ich konnte nicht schon immer denken. Meinen konnte ich, ganz engagiert, bis zur Arroganz, und bisweilen darüber! Irgendwann später aber habe ich gelernt. Das Meinen ging in dem Maße zurück, wie das Denken sich entwickelte. Und inzwischen kann ich das ganz gut. Jedenfalls so gut, dass mir der Unterschied immer gleich auffällt, wenn er mir begegnet. Und zur Zeit begegnet er mir sehr oft. Also denkend Kritik üben macht Kritik wirkungsvoller. Und akzeptabler. Und kritikwürdiger. Und damit konstruktiv. Eine bloße Meinung bleibt - bloß Meinung.

Die Grundhaltung heißt aber ""Standhalten". Trotz alledem will ich, hoffnungsvoll, einen Beitrag leisten. Da die Realität nicht gerade viel Motivierendes bereit hält, muss ich mich selbst motivieren, und Unterstützung in der Literatur und Philosophie suchen. Bei Max Horkheimer finde ich, als Antwort auf die Frage, ob er Optimist oder Pessimist sei, die Formulierung, er sei theoretischer Pessimist, und praktischer Optimist. Eine gelungene und kluge Äußerung, die mri schon immer imponiert hat. Sie setzt allerdings voraus, dass wir zur Theoriebildung fähig sind, also abstrakt denken können. Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Das Petitum, selber zu denken, sehr häufig als Feigenblatt-Entschuldigung genommen, um krudes Gedankengut zu alimentieren, dieses Petitum ist zeitlos gültig. Allerdings muss man auch das lernen. Und üben. Denn nichts ist das weniger, als einfach nur die Meinung rauszuplappern. In einem solchen Fall würde ich es für besser halten, wenn man eine andere Fähigkeit beherrschte, die dem sozialen Zusammenleben ungemein förderlich ist: Klappe halten!

Vor diesem Hintergrund ist es natürlich verständlich, dass wir, wollen wir etwas ändern, zunächst unser wichtigstes Hilfsmittel "schärfen", unsere Sprache. Wir müssen miteinander reden, um gemeinsam Zukunft zu gestalten. Wir müssen uns als Komplizen einer gemeinsamen Sache verstehen, die sich einigen, dieser Gesellschaft das wieder zurückzugeben, was sie eigentlich ausmacht: Sozialen Zusammenhalt. Der Mensch macht den Unterschied, bei aller digitaler Transformation. Die Beziehungen zwischen Menschen sind das Elementare, auf das Menschen sich verlassen können, bei aller Technik. Die Solidarität der Menschen ist es, der sie vertrauen können. Wenn wir das aber ins Zentrum unserer Bemühungen stellen wollen, muss das Auswirkungen auf unser aktuelles Zusammenleben haben. Das nämlich müssen wir neu gestalten, und dazu kann jeder einen Beitrag leisten. Der allererste Beitrag, und meines Erachtens der wichtigste, ist, sich eine solche Zukunft gedanklich vorzustellen, sich also selber Gedanken dazu zu machen, wie es gehen könnte. Das ist ein theoretischer Akt, ein Akt der Abstraktion, der, ungetrübt von jeder Realität, zunächst nur theoretisch, nur eine Idee ist, völlig frei von der Frage nach der Umsetzung, den Kosten, den Ressourcen. Zunächst. Der Austausch darüber sollte unsere nächste Zeit bestimmen.

Näheres über Komplizenschaft in Unternehmen und Organisationen: KulturKomplizen, und ein Interview mit dem Sozialpsychologen Klaus Fiedler, warum Menschen zu Komplizen werden sollen: Menschen zu Komplizen machen

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Der Ton macht die Musik! Aber nicht nur!

Tja, es ist wie so oft, eigentlich wie immer: Das Entscheidende in einer Kommunikation ist das, was ankommt, also wie es verstanden wird, also wie die/der Zuhörende es im Moment wahrnimmt. Diese Wahrnehmung ist niemals objektiv (schade auch!), sondern immer subjektiv! Sie ist für die/den Zuhörenden also immer richtig, immer wahr. Das macht es nicht leichter! Bereits der Grundsteinleger der Kommunikation, Paul Watzlawick ("Die Botschaft entsteht beim Empfänger" - ja, das müsste heute gegendert werden!) wußte darüber gut Bescheid, ebenso sein kongenialer Kollege Friedemann Schulz von Thun (Das "4-Ohren-Modell" der Kommunikation). Ihm gebührt das Verdienst, die etwas hermetische Sprache Watzlawicks in verstehbare Sätze gekleidet und den Erkenntnisprozess mit anschaulichen Skizzen beflügelt zu haben. Dafür sei ihm ewig Dank gesagt. 

Ob diejenigen, die auf irgendwelchen Kanälen im Netz irgendetwas veröffentlichen, von diesem Zusammenhang schon mal gehört haben? Je länger der Corona bedingte Ausnahmezustand andauert, desto schneller entwickelt sich  mein früherer Verdacht zur Gewissheit: Nein! Die allermeisten reden einfach drauflos, völlig frei vom Wissen um die Sensibilität von Sprache, Form und Syntax, unbeschwert von der Erkenntnis, dass Kommunikation mehr ist als die Weitergabe von Informationen, und von der Wirkmächtigkeit von Sprache ahnungslos. Nur so ist zu erklären, dass die Verlautbarungen in Wort und Schrift beim Bemühen, das Ziel, das jede Art der Kommunikation hat, nämlich einen Dialog zu initiieren, oder zu befeuern, grandios scheitern. Es ist ein Geplapper, mit allen erdenklichen Phrasen, Allgemeinplätzen, Verallgemeinerungen angereichert, das die Verantwortung für den Inhalt schon in dem Moment abgibt, in dem er geschrieben wird. Mit vielen Worten nichts sagen ist eine zweifelhafte Kunst, auf die sich auch Politiker*innen gut verstehen. Nein, das gibt jetzt keine Politiker*innenschelte! Gleichwohl ist das Thema Herrschaftssprache ein zentraler Bestandteil der Kritik an unserer politischen Kultur! Allerdings muss eine solche Kritik substanziell sein, und konstruktiv eine Veränderung im Blick haben. Wenn schon das nicht, dann wenigsten eine geharnischte Polemik, in geschliffener Rhetorik, pointiert formuliert, überraschend argumentiert, in bisweilen rabiates Vokabular gewandet, immer persönlich, immer treffsicher, immer mit Esprit! Und immer als solche erkennbar. In der guten Tradition der Entrüstungsliteratur eines Joseph von Westphalens, z. B., oder, etwas aktueller, des zornigen Kabaretts von Georg Schramm als Lothar Dombrowski.

Wie dem auch sei. Ich sehe mich jedenfalls bemüßigt, ein Video zu kommentieren, über das ich bei facebook gestolpert bin. Angehängt war der Beitrag als Text, was mir die Kommentierung erleichterte! So kann in der anhängenden Datei "Gegenrede" sowohl der Text des Videobeitrags, wie auch, in farbigen Einschüben, mein Kommentar zu einzelnen Stellen nachgelesen werden. Hier geht's zur Gegenrede, und hier zum Youtube-Video. Da dieses Video eine Veröffentlichung des Kanals KenFM ist, dessen Begründer zurückhaltend als "umstritten" eingeschätzt wird, und der u. a. wegen antisemitischer Äußerungen beim RBB seinen Job verlor, möchte ich hier auch noch auf eine profunde Analyse weiterer Verlautbarungen des Namensgebers verweisen.

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Denken! Sprechen? Klappe halten?!

Ja, die aktuelle Lektüre von  Publikationen in bekannten online-Foren wie ZEIT, SPON, SZ, oder linkedIn, XING, Youtube, facebook etc. lässt mich schon staunen, mit welcher Chuzpe (klingt irgendwie angemessener, besser, als Unverfrorenheit) viele Menschen ihre Meinungen veröffentlichen. Gedanken, die Karl Kraus in Erinnerung bringen: "Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein sie auszudrücken." "Si tacuisses ..." meinte einst der griechische Philosoph verzweifelt, und mahnt damit etwas an, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, nämlich bisweilen einfach mal die Klappe zu halten! Ja, das gilt schon lange, eigentlich schon immer. Und es gilt auch für diesen Text. Den man aber nicht lesen MUSS. Ich schreibe nur darüber, weil es mich zunehmend aufregt, welch ein Unsinn im Netz verzapft wird. Mit dem dreisten Gestus des Rechthabens, und unter dem pseudo-demokratischen Deckmäntelchen des "Das-wird-man-ja-noch-sagen-dürfen" kommen unausgegorene Meinungen daher, die, um das Elend komplett zu machen, auch noch genau diese Haltung bei allen anderen mit lautsprecherischen Worten anprangern.

Zum Beispiel die unzähligen Veröffentlichungen von Menschen, die sich über die scheinbare Wankelmütigkeit der gerade angesagten Wissenschaftler*innen aufregen. Und das dann auch umstandslos auf Politiker*innen übertragen. Es hat sich wohl noch nicht ganz rumgesprochen, dass das Wesen der Wissenschaft die Forschung ist, die naturgemäß niemals mit Gewissheit wahr sein kann. Jede Erkenntnis ist immer nur mit einer gewissen Unsicherheit zu formulieren, auf einer Vermutung aufgebaut, und nur solange gültig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Es ist der Umgang mit Unsicherheit, den wir alle wohl noch lernen müssen. Der erste Schritt dahin muss über die Sprache führen, die unsere Kommunikation, und damit unsere sozialen Beziehungen prägt! Es hilft ungemein, wenn wir zunächst etwas vorsichtiger formulieren würden. NATÜRLICH ist das anstrengend. Jedes Wort gehört auf die berühmte Goldwaage! Eine gute freundschaftliche Beziehung mit möglichst wenig Missverständnissen sollte uns das wert sein! Und wenn man die sprachlichen, vor allem aber die schriftlichen, Äußerungen verfolgt, ist es notwendiger denn je!

Ein anderes unsägliches Thema ist die klischeehafte Verurteilung des Intellektuellen, einer unseligen Tradition folgend. Es lässt sich immer wieder, und zunehmend, feststellen, dass es ein wohl tief verwurzeltes Ressentiment (meint: eine auf dem Gefühl der Unterlegenheit beruhende Abneigung) gibt, das, zumindest in krisenhaften Zeiten, beinahe reflexhaft an die Öffentlichkeit drängt: Der Zorn auf die Intellektuellen! Ich habe noch nie so ganz verstanden, wer "die Intellektuellen" eigentlich sind. Inzwischen wurde mir klar, dass damit wohl Leute gemeint sind wie Richard David Precht. Nur, warum ausgerechnet der?  Die Begründung wird gleich mitgeliefert: Weil er immer im Fernsehen ist, zu allem was zu sagen hat, unverständlich redet, und zu Themen sich äußert, von denen er keine Ahnung hat. Nun verfolge ich den Herrn Precht schon eine geraume Zeit. Ich halte ihn für einen sehr guten Denker, der aus einem breiten Wissensfundus schöpfen kann, gut und verstehbar spricht, und, ganz wichtig, immer auf einen Dialog aus ist! Ich halte ihn für einen Philosophen, der auf dem Grat zwischen einerseits konsequenter Unterforderung (Fernsehen), und andererseits wissenschaftlich angemessener Formulierungskunst, wandelt, ohne bisher abgestürzt zu sein. Das macht er ganz gut! Mein wichtigstes Argument allerdings ist, dass er über Themen spricht, in denen er sich nicht wirklich gut auskennt. Ich halte das für mutig, weil er sich ja nicht anmaßt, überall eine Epertenmeinung zu vertreten. Sondern, im Gegenteil, Anknüpfungspunkte für die eigentlichen Expert*innen eröffnet. Ich bin an Egon Friedell erinnert, der einen meiner Lieblingsbegriffe wunderbar beschreibt, den Begriff des "Dilettantismus'". Dazu führt er in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" aus:

"Was den Dilettantismus anlangt, so muss man sich klarmachen, dass allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt wird. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im üblen Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel. Der Fachmann steht immer zu sehr in seinem Berufskreise, er ist daher fast nie in der Lage, eine wirkliche Revolution hervorzurufen: er kennt dieTradition zu genau und hat daher, ob er will oder nicht, zu viel Respekt vor ihr. Auch weiß er zu viel Einzelheiten, um die Dinge noch einfach genug sehen zu können, und gerade damit fehlt ihm die erste Bedingung fruchtbaren Denkens. Die ganze Geschichte der Wissenschaft ist daher ein fortlaufendes Beispiel für den Wert des Dilettantismus. (…) Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts Zuverlässiges wissen kann, kurz Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen ließe, daß sie falsch sind – dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität (…).“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Der Vorwurf selbst scheint mir in einem gering ausgeprägten Selbstwertgefühl zu wurzeln, vielleicht einem Minderwertigkeitskomplex, der sich bisweilen rüde Bahn bricht. Es könnte auch eine innere Blockwartmentalität sein, die da durchbricht. Aber wie dem auch sei, diese Corona-Krise bringt uns doch viele Erkenntnisse. Neue, aber auch solche, die wir vorher auch schon kannten. Wir wussten beispielsweise bereits seit 1972 durch den Club of Rome über die Grenzen des Wachstums Bescheid. Zwar ohne erkennbare Auswirkungen, aber jetzt wieder recht unsanft darauf gestoßen. Vielleicht klappt es ja jetzt mit dem Lernen. Die Erkenntnis, dass wir vorsichtiger, zurückhaltender miteinander sprechen müssen, ist zwar auch nicht originell, kommt aber aktuell mit einer gewissen Drastik daher. "Der Ton macht die Musik" wußte bereits der Volksmund, die dumme Schnauze. Und die Musik, die gerade in den sogenannten sozialen Netzwerken gespielt wird, ist ein guter Grund, sich mit Grausen abzuwenden. Wenigstens kurz! Um dann mit Verve wieder mitzumsichen!

Weiterführende Texte: Von Fritz B. Simon Auszüge aus seiner Anleitung zum Populismus, ein Text von mir über  Dilettantismus, das Hohelied der Provisorien, über Rhetorik der Krise, und, ein Kontrapunkt, über die Verführbarkeit durch neue Propheten: Wir brauchen eine Schulrevolution.

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Lernen wir? Zum 75. Jahrestag der Befreiung!

Anlass ist der 08. Mai, der sich zum 75. Mal jährt. "Tag der Befreiung" nannte Weizsäcker das Kriegsende in seiner berühmten Rede 1985, zu einer Zeit also, als es noch eines gewissen Mutes bedurfte, dieses Datum öffentlich und aus Überzeugung so zu bezeichnen. Es war damals noch nicht unbedingt die Meinung der Mehrheit der Menschen in Deutschland. Deshalb Danke, Richard von Weizsäcker.  Diese Zäsur war nicht nur das Ende des Krieges, sondern ist, wie jedes Ende, auch ein Neuanfang nach schlimmen Zeiten!

Die Erinnerung daran halte ich für überlebensnotwendig für unser soziales Geflecht in Deutschland. Nur die Erinnerung daran kann uns beispielsweise bewußt machen, was alles passiert ist in den letzten 75 Jahren. Wie nah wir uns in Europa gekommen sind, wie grenzenlos unsere Nachbarschaft wurde. Diese Richtung stimmt, davon bin ich überzeugt. Umso ärgerlicher bin ich, wenn ich merke, dass gerade in Krisenzeiten, in denen die Stabilität von Strukturen und Mechanismen sich erweisen muss, dieses Europa in einem äußerst fragilen Zustand zu sein scheint. Es macht gerade keinen wirklich guten Eindruck! Nationale Abschottung ist nunmal keine wirkungsvolle Strategie im Kampf gegen die Pandemie, die Zuflucht zu autoritären Staatsführern ist immer eine Illusion, die mit dem berechtigten Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit Schlitten fährt, ökonomische Fragen und deren Konsequenzen wie z. B. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit, müssen wir, in unser aller Interesse, international bearbeiten, europäisch lösen. Die Werte der Aufklärung, des demokratischen und solidarischen Miteinanders, sollen das europäische Fundament bleiben, und nicht auf dem Altar von Sicherheit, Nationalismus und Profit geopfert werden.

Mein Blick in die Gesellschaft bleibt skeptisch. Warnend, aber auch zuversichtlich mahnte Brecht:

„So was hätt' einmal fast die Welt regiert!

Die Völker wurden seiner Herr,

jedoch dass keiner uns zu früh da triumphiert -

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“

Eine Einstellung, der ich mich immer schon verpflichtet fühlte, und immer noch fühle. "Standhalten im Dasein", titelte einst Hans-Jochen Gamm, gespeist aus den Gedanken und Ideen der Kritischen Theorie, - er gab meiner Einstellung ein Fundament. Standhalten ist auch jetzt notwendig, angesichts eines anschwellenden Bocksgesangs, die aktuellen Maßnahmen seien nicht anderes als staatlich gelenkte Freiheitsberaubung, die Wissenschaft sei sich uneins, und deshalb nicht vertrauenswürdig, die Politiker*innen seien ohnehin Vasallen der amerikanischen Hegemonie, etc. pp. Welch ein Unfug aktuell zu lesen ist, und in welch einer Sprache dieser Unsinn verzapft ist, es macht mich bisweilen sprachlos. Ohnmächtig. Aber nur kurzzeitig! Nach dieser Schwächephase klärt sich das Denken schnell, der Zorn kehrt zurück, und richtet sich auf das, was wir statt dessen brauchen: Solidarität, soziales Handeln, kulturelles Engagement, europäisches Denken. Eine Gesellschaft, die sich mehr Gedanken darüber macht, wie sie die Spargelernte sicherstellen kann, als über das Sterben im Mittelmeer, war noch nie normal, schrieb kürzlich Samira El Quassil, Kolumnistin bei Spiegel-online. Sie hat recht!

Wir befinden uns in einem Zustand der Entschleunigung, den wir nutzen müssen, um uns neu zu erfinden, meinte Hartmut Rosa. Dabei hilft der Gedanke an eine europäische Republik, wie sie beispielhaft von Ulrike Guérot formuliert wurde. Internationale Zusammenarbeit heißt der Rahmen, der notwendig ist, wollen wir die anstehenden Probleme für uns alle lösen. Die Komplexität dieser Aufgaben lässt keine solistischen, nationalen Lösungen zu. Wir sollten anfangen, in diesem Sinne verantwortungsvoll mit uns und unserem sozialen Zusammenleben umzugehen. Der 8. Mai 2020 ist dafür ein richtig guter Anlass!

Ergänzung durch einen Text von Ulrike Guérot zum Thema Europa als Republik

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Die richtigen Fragen verändern die Welt!

Bei der aktuellen Diskussion in den sozialen Medien, in vielen Foren, Verlagen, Kommentarspalten, Feuilletons, etc., digital, analog, oder irgendwie, werden die unterschiedlichsten Positionen gegeneinander gestellt, verglichen, abgegrenzt, verschmolzen. Es ist eine "entweder-oder- Haltung, die ich oft wahrnehme. In der Regel vor dem Hintergrund der Positionen, die man ohnehin schon lange einnimmt. Schlussendlich bleibt dann wieder nur, schicksalsergeben-fatalistisch, die platte Erkenntnis, dass der eine es so, der andere es eben anderes sieht. Das gipfelt dann gerne auch in Vorwürfen, gespeist aus unreflektierten Vorurteilen, die vom Kadavergehorsam bis zum Verschwörungstheoretiker mit Staatsphobie die ganze Palette der bekannten Schmähungen aufweist. Und natürlich einen Dialog, jeden Dialog, im Keim erstickt! Es ist eine Haltung, die schon immer wusste, was richtig ist, wie's geht, und wer schuld ist. Bisweilen ein eloquent verpacktes, rhetorisch gut strukturiertes, wissenschaftlich begründetes Handreichen zum Dialog, das aber nur so tut, als ob. In dem Moment, in dem sich tatsächlich eine Art Dialog, ein Streitgespräch, entwickeln würde, ist die Hand schon wieder weg.

Das erinnert an ein im besten Sinne merkwürdiges Begrüßungsritual zweier Fahrräder schiebender Frauen, deren zufällige Begegnung sie zu einer Art Dialog veranlasste, der als Paradebeispiel einer gelungenen Kommunikation in die Lehrbücher aufgenommen werden sollte. Diese Begegnung ereignete sich in der Kurpfalz, ergalso (Malmsheimer) im kurpfälzer Platt, also in der gebotenen Kürze, und ging so: Frau 1: "Unn? Wie?", Frau 2: "Ha - 's muss!", Frau 1: " Na, mir werre's rumbringe!", Frau 2: "Hajoo, allaadann!" Alles klar, alles verstanden, alles wie immer, kein Grund zur Beunruhigung! Hier wird alles transparent, was gute Kommunikation ausmacht: Verständlichkeit (Sprache und Dialekt, kurze Sätze!), Verstehbarkeit (wir haben Interesse aneinander), Wertschätzung und soziale Integration (Fahrräder schieben, ähnliche Tätigkeiten!), Transzendenz (das Leben vom Ende her denken!), Großzügigkeit und Akzeptanz (wir sitzen alle im selben Boot: WIR!).

Ist Kommunikation wirklich so einfach? Ja, mitunter ist sie einfach. Aber nicht immer. Wenn unsere Art miteinander zu sprechen, nicht ritualisiert erstarrt bleiben soll, wenn wir uns der "Illusion der Eindeutigkeit" in der Kommunikation berauben, wenn wir uns also ent-täuschen wollten, dann müssen wir die "entweder-oder"-Falle umgehen. Mir hilft dabei das Nachdenken, um welche Fragen es eigentlich geht, was die wirklich wichtigen Themen sind. Auf welche Fragen brauchen wir wirklich dringend Antworten?

In einem ersten Schritt halte ich mich an eine systemische Herangehensweise, nämlich das Gute im Schlechten zu suchen. Das ist ein hilfreicher Ansatz, und auch jetzt ein guter Anfang. Was also ist das Gute im Schlechten der Corona-Pandemie? Nun, zum Beispiel haben wir gerade viel Zeit, über uns und unser Zusammenleben nachzudenken, ohne dass ein Termindruck-Hamsterrad uns davon abhält (obwohl die digitalen Sitzungen mit der "teams-zoom-webex"-Software sich bereits erkennbar darum bemühen, diese Funktion zu übernehmen!) . Wir können uns zur Zeit Dingen widmen, die aus demselben Grund bisher liegengeblieben sind. Wir können Muße wieder schätzen lernen, die Stille neu entdecken, die Erkenntnis genießen, dass vieles nicht wirklich nötig ist, die Erfahrung erneuern, dass Gespräche anstrengend sein können, wenn man sich drauf konzentriert, wir können die dynamische Balance von Alleinsein und sozialen Kontakten neu justieren, -und wir können uns mit den großen Fragen der Menschheit befassen.

Beispielsweise, warum Hunger noch immer weltweit die häufigste Todesursache ist. Ich halte diese Frage für diejenige mit der größten Systemrelevanz! Oder: Wie kann es sein, dass wenige Menschen es sich auf Kosten vieler Menschen gutgehen lassen? Wieso schlittert die Menschheit sehenden Auges in die Klimakatastrophe, und tut nichts?! Oder die Frage, die im Lichte aktueller Erfahrungen präsenter ist denn je, ob nämlich das Gesundheitssystem nicht doch besser staatlich organisiert werden muss, damit alle gleichermaßen versorgt werden? Was macht es mit den Menschen in einem Krankenhaus, wenn es wie ein Unternehmen geführt wird? Ob überhaupt die grundlegende Versorgung in den Bereichen Gesundheit, Mobilität, Energie und Wasser, um nur einige zu nennen, nicht besser stattlich organisiert sein muss, wenn alle gleichermaßen daran teilhaben sollen? Oder auch die Frage, ob der Föderalismus nicht einer Reform bedarf, z. B. hinsichtlich einer Art Konsensverpflichtung? Und in diesem Zusammenhang auch das Thema Europa, mit der Idee einer europäischen Republik, in der die Nationalstaaten Teile ihrer nationalen Souveränität auf eine supranationale Regierung übertragen? Immer nach demokratischen Prinzipien, versteht sich. Aber immer getragen von der Haltung des Möglichmachens, immer orientiert an der Frage, wie es möglich werden kann. Wieso schaffen wir nicht das Prinzip der Einstimmigkeit in den europäischen Regierungsgremien ab, das jede vernünftige Entwicklung verhindert? Warum erlebt der autoritäre Staatsführer eine Renaissance, und warum tun wir nichts dagegen? Wieso schaffen es Lobbyisten nach wie vor, die Interessen von wenigen erfolgreich zu vertreten, auf Kosten der Interessen vieler? Wie können wir das regional regeln, was regional regelbar ist, und wie reduzieren wir die Abhängigkeit global agierender Konzernverflechtungen? Wie bleiben wir bei all diesen Fragen lösungsorientiert, differenziert, konzentriert, großzügig und respektvoll? Wie bleiben wir human?

Und auch wenn ich sehr gut verstehen kann, dass Alfred Andersch, im Rückblick auf die nationasozialistische Barbarei, verzweifelt ausrief: "Schützt denn Humanismus vor gar nichts?", - ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Max Horkheimer hat einmal auf die Frage, ob er Optimist oder Pessimist sei, geantwortet, er sei theoretischer Pessimist und praktischer Optimist. Das scheint mir eine weise Haltung zu sein. Denn natürlich ist es nicht wirklich eine spinnerte Idee, über all diese Fragen nachzudenken. Es ist ein Versuch, konstruktiv Zukunft zu gestalten, im Dialog, gleichberechtigt, und gemeinsam. In einem aktuellen ZEITonline-Post thematisiert Hartmut Rosa genau dieses Thema: Wir leben in einer kollektiven Entschleunigung, und nutzen sie nicht. Wir können die Welt verändern, und genau das sollten wir auch tun. Jetzt ist die Zeit, wie einst Rio Reiser sang: "Wann, wenn nicht jetzt, wo, wenn nicht hier, wie, wenn ohne Liebe, wer, wenn nicht wir?!"

Ergänzende Texte der Soziologen Armin Nassehi:  Nichts ändert sich und Hartmut Rosa: Nach Corona, ein kabarettistischer Beitrag über Humanismus von Josef Hader, und zur alten, aber sehr aktuellen Frage, ob in einer Demokratie der Primat der Politik oder der Ökonomie gebührt, ein Streitgespräch im Carl-Auer-Verlag, quasi der Heimathafen aller systemischen Denker in Deutschland: Zur Seite ...

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Die Welt verändern? Na klar, was sonst!

Letztlich ist es wirklich meine eigene Ohnmacht (und natürlich die Macht der anderen, wie Adorno meinte), die mich zornig macht. Es geht um Äußerungen wie die von Herrn Laschet, der landesväterlich gebremst die angebliche Wankelmütigkeit der Virologenkaste bemängelt. Oder um die des Herrn Blome, der sich tatsächlich nicht entblödet und Frau Merkel einen infantilen Umgangston mit den Bürger*innen bescheinigt. Was der Herr Lindner ja schon lange bemängelt. Nun denn. Dieser illustren Intelligenzia kann ich schlecht mangelndes Denkvermögen unterstellen. Ihre Äußerungen müssen also andere Gründe haben. Verletztes Ego, Profilierungssucht, Eitelkeit, mangelnde Phantasie, intellektuelle Mattheit, es gibt viele Mutmaßungen, und vielleicht ist es ja von allem etwas!

Mich regt das aus dem Grund auf, weil sie damit etwas sabotieren, was für unser soziales Zusammenleben, vor allem in Krisenzeiten, eminent wichtig ist: Das Wissen darum, wie Wissenschaft funktioniert, wie sie arbeitet, wie sie zu Erkenntnissen kommt. Wissenschaft ist ständig in Veränderung, stellt alles andauernd in Frage, bleibt immer kritisch, ist quasi Struktur und Methode gewordene Skepsis. Es ist ein kontinuierliches Sammeln von Daten, weltweit und interdisziplinär, entlang der Überlegung des Philosophen Karl Popper, dass eine Hypothese so lange gilt, bis sie widerlegt ist. Bis dahin ist sie aber auch nur wahrscheinlich gültig, was auch so deutlich zu formulieren ist! Deshalb wird begutachtet, geprüft, vermutet, verworfen, gesammelt, usw., in einem Tempo, das für wissenschaftliche Arbeiten enorm ist.

In all dem steckt grundsätzlich nie Klarheit, im Sinne von Eindeutigkeit. Oder Sicherheit. Und deshalb kommen die Aussagen unterschiedlicher Virologen mitunter auch so unterschiedlich daher, vor allem hinsichtlich der zu empfehlenden Maßnahmen in Form politischer Entscheidungen. Bisher war, vor diesem uneindeutigen wissenschaftlichen Hintergrund, ein wägendes, tastendes Vorgehen festzustellen, mit der notwendigen Sorgfalt, und dem offenen Blick für die Komplexität der gesellschaftlichen Situation. Deshalb habe ich das Vorgehen der Regierung als angemessen eingeschätzt, und die Kommunikation als sachlich unaufgeregt, ernsthaft und klar.

Bei all dem, was in einigen europäischen Nachbarländern an rigorosen Maßnahmen durchgeführt wird, halte ich das Vorgehen der Bundesregierung, gerade vor dem Hintergrund der demokratischen Grundrechte, für vollkommen adäquat. Der Einwurf von Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung zu gerade diesem Zusammenhang bleibt jedoch prinzipiell gerechtfertigt. Jede Maßnahme in dieser Pandemie braucht die Akzeptanz möglichst vieler Menschen. Und die wird umso leichter sich einstellen, je besser die demokratischen Grundrechte in der Argumentation, in den Alltagsgesprächen integriert sind. Prantl weist darauf hin, dass die Pressefreiheit einen unverzichtbaren Beitrag dazu leistet, indem sie konstruktiv und vernehmbar Kritik übt, und Menschen miteinander ins Gespräch bringt.

Die zu Anfang genannten Herren unterminieren mit ihren Äußerungen diesen demokratischen Mechanismus, mit dem fadenscheinigen Grund, in der Demokratie müsse man das sogar sagen, so jedenfalls Herr Lindner. Was mich umstandslos an die scheinbare Alternativlosigkeit von Letztbegründungen  wie "deus lo vult - Gott will es!" erinnert, mit der noch jedes Massaker gerechtfertigt werden konnte. Nun gut, etwas martialisch vielleicht. Aber der Zorn ist groß, das muss auch irgendwie zum Ausdruck kommen. Ein weiterer Aspekt, der das Wachstum meines Zorns begünstigt, ist der, dass solche Aussagen wie die eingangs erwähnten sich missbrauchen lassen, Beifall von der falschen Seite sozusagen! In den sozialen Netzwerken sind reichlich selbsternannte Kritiker (vor allem Männer, das braucht man nicht gendern) unterwegs, die, ganz offiziell nachgewiesen, als sog. Verschörungstheoretiker ihre kruden Gedanken streuen, wissenschaftlich verbrämt, und unter dem demokratischen Deckmäntelchen des "Das-wird-man-ja-noch-sagen-dürfen". Jede Kritik an ihren Aussagen wird mit diesem Verweis genauso rigoros abgeschmettert, wie in der Haltung des Herrn Lindner, der das Framing des Wortes Demokratie aus gleichem Grund für sich nutzt.

Auf diese Art und Weise wird es zu einem konstruktiven Dialog wohl nicht kommen, der doch gerade jetzt nicht nur notwenidg, sondern auch sehr gut möglich wäre. Zeit dafür hätten wir gerade, und wahrlich nichts besseres zu tun, als unsere Zukunft besser zu gestalten. Wir können aus unserer Angst, aus unserer Ohnmacht heraustreten, wir können "zum Täter unserer Geschichte" (Heydorn) werden, wir können die Welt verändern. Und hinter diesen Anspruch will ich nicht zurück.

Kommentierende Essays dazu: Stöcker Wissenschaft ist keine Wunschmaschine und Prantl Pressefreiheit

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Der Konsum in der Sinnkrise!

Gewissheiten lösen sich auf, alte Regeln gelten nicht mehr, neue sind noch nicht vereinbart, die Frage "Brauch' ich das?" drängt sich von der unterbewußten Ebene des schlechten Gewissens mit Macht in den Vordergrund, und macht dort als konkretes Verhalten die Grenzen des Wachstums sichtbar. Dieses System kommt an seine Grenzen, es kippt. Jedenfalls möchte ich die aktuelle Situation gerne so interpretieren. Ich weiß genau, dass gerade heute Sigmar Gabriel die Corona-Pandemie als eine Art "Brandbeschleuniger" für all die Verhaltensweisen bezeichnet hat, die uns alle in diese katastrophale Situation gebracht habe. Assistiert wird ihm dabei von Harald Welzer, der, wiewohl eigentlich sehr hoffnungsfroh, den Optimismus dieser "Krise als Chance" auch nicht teilt: "Die Leute sind die Leute, vor und nach Corona". Nun ja.

Trotz alledem bin ich eher geneigt, die aktuelle Situation hoffnungsfroh kapitalismuskritisch zu interpretieren. Der Konsum geht signifikant zurück, weil die Menschen auf die eingangs gestellte Frage immer öfter und ganz selbstbewußt mit "NEIN, das brauch' ich nicht!" antworten. Die sog. Anschaffungsneigung der Verbraucher befindet sich im freien Fall, so wird im ersten  Artikel im Anhang ("Brauch' ich das?") formuliert. Und da Kapitalismus ohne Konsum, ja sogar nur mit eingeschränktem Konsum, nicht überleben kann, werden wir uns etwas neues überlegen müssen. Das mythische Verlangen, Sachen zu kaufen, die keiner braucht, hat einen erheblichen Dämpfer erfahren. Selbstverständlich ist dieses Verlangen kein natürliches, es ist künstlich erzeugt! Hoffentlich liegt in dieser Erfahrung ein Grundstein für eine Emanzipation vom gedankenlosen Konsum. Wir sollten unser Denken und unsere Sensibilität wieder für unsere eigenen Zwecke nutzen, anstatt sie, Trash-TV-umnebelt, an der Eingangstür der Einkaufszentren abzugeben.

Was mir umstandslos einleuchtet ist, dass es in dieser neuen Situation neue Regeln, neue Verabredungen braucht. Und auch wenn es aggressive Diskutanten gibt, die ihren Kontrollfetischismus in der Schlange vor dem Metzgerwagen auf dem Markt lautstark zum Ausdruck bringen, und sch damit unmittelbar als Gesprächspartner disqualifizieren, so habe ich doch den Eindruck, das wir Menschen durchaus eine anpassungsfähige und lernbereite Spezies sind. Wir sollten es auch gebacken kriegen, ungeduldig vordrängelnde Mit-Konsumenten (übrigens oft ältere Männer) mit Nachdruck auf den korrekten Schlangenplatz zu verweisen. Aber all das will eingeübt sein, damit eine veränderte soziale Praxis mit verzögernden Abläufe, und kommunikativen Hindernissen wie eine MundNasenMaske irgendwann zur neuen Normalität werden kann.

Wahrscheinlich wird uns das gut tun, wenn wir schließlich feststellen, dass wir auch ganz ohne den inneren Blockwart, wie der Autor im zweiten angehängten Artikel ("Ende der Gewissheiten") es bezeichnet, ganz gut miteinander sprechen und uns einigen können. Denn immerhin ist die Sprache ja mehr als nur die Weitergabe von Informationen. Das ist eklatant spürbar, wenn, wie zur Zeit, bestimmte Kommunikationskanäle, wie z. B. Gestik oder Mimik, eingeschränkt sind. Ich hoffe auf den befreienden Aspekt, wenn Kommunikation wieder alle Möglichkeiten nutzen kann, die grundsätzlich zur Verfügung stehen. Die aktuelle Defiziterfahrung sollte uns eine Lehre sein!

Die beiden ZEITonline-Artikel finden Sie hier: Brauch ich das?, und Ende der Gewissheiten

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Zur Ambivalenz von Freiheit und Kontrolle – Die Corona-App!

Nein, ich war noch nie ein Freund der elektronischen Handgelenksgerätschaften, dieses elektronischen Freundschaftsbändchen-Ersatzes für das wohlig-gruselige Gefühl, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Gegen jeden Einwand gefeit mit dem lautsprecherischen Argument, es sei ja wohl vernünftig auf seine Gesundheit zu achten. Jenseits von Schritte zählen oder Puls messen, kommen nun Apps daher, die aber, Corona bedingt, noch ganz andere Sachen können. Mit dem Ziel, Quarantäne früher zu veranlassen, und damit Infektionsketten zu unterbrechen, soll diese Contact-Tracing-App ("Pepp-Pt") Kontakt zu Corona-Infizierten anzeigen. Das klang heilsbringerhaft-vernünftig, ist inzwischen aber so ausgehöhlt, dass sich international Wissenschaftler zu einem offenen Brief veranlasst sahen. Tenor: "Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir bei der Bewältigung der gegenwärtigen Krise kein Instrument schaffen, das eine groß angelegte Erhebung von Daten über die Bevölkerung ermöglicht, weder jetzt noch zu einem späteren Zeitpunkt."

Hinter all dieser Initiative steht, wie immer, die Frage nach dem "cui bono - wem nützt es?" Und auch das ist, wie  immer, die Frage nach der Macht: "Was passiert mit unseren Daten, wenn die Corona-Krise einmal vorbei ist?" Es geht, auch wie immer, um das Vertrauen der Menschen in Staat und Unternehmen, das, bei allem Wohlwollen, nicht sehr stark ausgeprägt ist. Und wofür mir auch noch durchaus drastischere Formulierungen einfallen. Um aber eine an sich vernünftige Idee, nämlich mit einer App wirkungsvoll die Infektionsketten zu unterbrechen, umzusetzen, braucht es Vertrauen in die digitale Grundkonstruktion, und in die Integrität der handelnden Personen. Das ist die Krux.

Das ist sie auch für Heribert Prantl, den Kolumnisten der Süddeutschen Zeitung. Er macht seine Skepsis an der Freiwilligkeit fest. Zwar soll diese App freiwillig runtergeladen werden, der Hinweis, dass sie aber nur dann gut funktioniert, wenn möglichst viele das tun, setze Menschen sehr unter Druck. Dieser Einschätzung kann ich nur zustimmen. Das Prinzip der Freiwilligkeit verliert dann seinen Gehalt, seine Substanz, wenn ich zum Schluss derjenige bin, der nicht mitmacht, und mich dann dafür auch noch rechtfertigen muss! Strukturen werden sich entwickeln, die mit App einfacher genutzt werden können, als ohne, ein Leben ohne App wird zunehmend umständlicher, schwieriger, kräftezehrender. Das ist das Gegenteil von Freiwilligkeit. Und gerade im Gesundheitsbereich ist das ein äußerst gravierendes Unterfangen, ist da doch alles sensibel, weil intim. Das muss auch so bleiben, davon bin ich überzeugt.

Eine solche App ist für mich das weit offene Scheunentor in die weitere Digitalisierung all dessen, was Menschsein ausmacht. Sie befördert die datenbasierte Beantwortung von Fragen nach Rentabilität und Profit im Gesundheitsbereich, nicht nur, ob bestimmte Operationen sich für menschen eines bestimmten Alters "noch lohnen". Sondern auch solche Entwicklungen, die wir aktuell schon von den Versicherungen kennen, dass nämlich bestimmte nachweisbare Verhaltensweisen zu geringeren Beiträgen führen. Die Auswirkungen auf unsere sozialen Beziehungen sind noch nicht genau zu beschreiben. Was aber zu erleben ist, lässt nichts Gutes vermuten. Die ohnehin erkennbare Spaltung der Gesellschaft wird dadurch noch verstärkt.

NEIN, natürlich geht es nicht um eine generelle Technikfeindlichkeit! Ich bin auch nicht gegen smarte, intelligente Lösungen, wie das unerträgliche Framing des Herrn FDP-Lindner nahelegt. Es ist viel schlimmer: Es geht um ein generelles Misstrauen gegenüber den Eliten, den handelnden Personen. Wenn unterschiedliche Epidemiologen mit unterschiedlichen Beurteilungen der aktuellen Pandemie an die Öffentlichkeit gehe, und sich nicht auf die jeweilig anderen Einschätzungen beziehe, ist das für das Vertrauen in die Wissenschaft eine Katastrophe. Es sind nur Epidemiolog*innen, keine Kommunikator*innen. Aber von Dialog, Akzeptanz und Verständnis als wesentlicher Funktion von Kommunikation hätten sie doch schon mal hören sollen. Sonst sind sie auch als Epidemiolog*innen eine Fehlbesetzung! Das gilt selbstredend und umstandslos auch für Politiker*innen!

Wie dem auch sei, hier sind die beiden Artikel, die ich zugrunde gelegt hatte: Aus ZEIT online: Beispiellose Überwachung mit der APP, und Prantl über Corona-APP.pages

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Klimakatastrophe vs. Corona?

Wenn ich mir überlege, dass das wichtigste Thema vor Corona die Klimakatastrophe war, dann wird es Zeit, den Blick auch wieder darauf zu richten. Und es ist eine Katastrophe, es geht nicht um den Klimawandel. Menschengemacht, handgemacht, handmade. Kein verharmlosendes Framing, sondern das Phänomen als das bezeichnet, was es ist. Wenn man einen Biologen fragt, wie beispielsweise Volker Mosbrugger im Interview der FAS am 19.04.20, dann macht der mir sehr schnell sehr klar, dass die Richtung, die unsere Weltgesellschaft nimmt, geradewegs in die Irre führt (was ich ja schon lange vermutet habe!). Und NATÜRLICH geht es nicht um die Frage, zu wieviel Prozent der Mensch für diese Entwicklung verantwortlich ist. Oder wie schlimm es noch werden darf, bevor wirklich etwas passieren muss!!!! Es geht grundsätzlich in die falsche Richtung mit uns Menschen. Tagtäglich weisen uns Ereignisse, Erkenntnisse, Berichte, Informationen, Entdeckungen etc. darauf hin, dass es zunehmend mehr Menschen nicht nur nicht wirklich gut geht, oder sie unter den aktuellen Bedingungen leiden. Dieses System hat vielmehr einen fatalen Effekt, es ist tödlich! 

Das Dilemma liegt auf der Hand: Das, was uns Menschen das Leben angenehm macht, ruiniert die Natur. Und damit die Lebensgrundlagen letztlich für uns alle. Wir sollten unsere vielgerühmte Fähigkeit nutzen, kreative Lösungen für komplexe Probleme entwickeln zu können. Die Richtung heißt "dynamische Balance", die empathische Orientierung ist ein altbekanntes Motto: Mir selbst kann es nur gut gehen, wenn es den anderen auch gut geht. Und, na klar findet sich das auch bei Adorno, weshalb es nicht richtiger oder besser wird. Aber seine Aussage "Es gibt kein Richtiges im Falschen" bringt unsere soziale, intellektuelle, emotionale, moralische Abhängigkeit voneinander prägnant auf den Begriff. Wahrscheinlich ist es mit Adorno wie bei Mark Twain, der auch zu allem etwas gesagt hat, und bei dem man immer fündig wird. Nicht nur auf der Suche nach Kalendersprüchen.  

Und es geht nicht nur um die Flüchtlinge im Mittelmeer. Noch immer sterben laut Welternährungsprogramm (WFP) mehr Menschen an Unterernährung als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen, der Hunger fordert auch mehr Opfer als alle Kriege. Solange Menschen Hungers sterben hat Jean Ziegler recht, wenn er sein Buch "Ändere die Welt" mit der zweiten Überschrift "Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen" versieht.

In diesen Corona-Zeiten haben wir die Chance, uns auf wesentliche Dinge des menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens zu besinnen. Diese Zäsur nutzt die Natur zur Erholung. Wir sollten das auch tun, und die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. Lars Reichow hat dazu einen satirischen Beitrag auf SWR2 verfasst. Hier ist er zu hören: 

 

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Der Individualismus ist schuld?

Das war doch quasi ein soziologischer Paukenschlag des Herrn Bude: Der Neoliberalismus ist tot! Der Soziologe Heinz Bude hat auf stern.de Anfang April die Corona-Pandemie als "Schlussstrich unter eine Periode von 40 Jahren Gesellschaftsgeschichte" bezeichnet, in deren Mittelpunkt das Individuum stand: "Unser ganzes Denken kreiste immer um das  Individuum, das sich mit Kompetenzen und Rechten ausstattet, das widerstandsfähig ist gegen Krisen, seine Besonderheiten inszeniert und so seine „splendid isolation“ feiern kann: Großartigkeit in der Vereinzelung." Das alles breche nun in sich zusammen, die Pandemie sei eine Zäsur, die unsere Sicht auf die Welt, und das Leben in der Welt, grundlegend verändere.

Das schätze ich auch so ein. Zumindest die Konsequenz. Vielleicht nicht ganz so revolutionär-umfassend, aber auf jeden Fall signifikant! Allerdings habe ich ein etwas anderes Verständnis von Individuum und Individualität. Ich orientiere mich an der Idee von Adorno, der einmal Individuum und Kollektiv in einen dialektischen Zusammenhang brachte, indem er sinngemäß sagte, dass wirkliche Kollektivität sich ohnehin nur als entwickelte Individualität denken ließe. Denn nur ein entwickeltes Individuum sei in der Lage, die Notwendigkeit von Kollektivität zu erkennen, und sich entsprechend zu verhalten.

Ich habe das immer so verstanden, dass die Entwicklung einer eigenen Charakters, einer eigenen, autonomen, mündigen Persönlichkeit, notwendig zu der Erkenntnis führen muss, dass ein Überleben nur im sozialen Verbund, im Kollektiv möglich ist. Nur ein wirklich entwickeltes Individuum ist in der Lage, sein eigenes, existenzielles Interesse an einer kollektiven Lebensform zu erkennen. Denn nur ein wirklich entwickeltes Individuum ist fähig und willens, die Grundbedingung für das Funktionieren eines Kollektivs zu akzeptieren: Die punktuelle Nachrangigkeit des eigenen Interesses. Diese Akzeptanz spiegelt sich in dem konkreten Verhalten, etwas nicht zu tun, obwohl es nicht verboten ist. Nur ein mündiger Mensch ist dazu in der Lage, sich freiwillig selbst zu bescheiden, sich zurückzunehmen. Nur ein mündiger Mensch kann sein Interesse dem allgemeinen Interesse freiwillig unterordnen.

Und in diesem Sinne hofft Herr Bude auf "bessere Zeiten" (ja, das hat er so nicht gesagt!), - ich hoffe mit ihm. Und bin, den Unkenrufen zum Trotz, sehr zuversichtlich!

Hier geht's zum Bude-Text: Bude Keine Ichlinge

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